Myotone Dystrophien

Neurologie

Steckbrief

Bei den myotonen Dystrophien Typ 1 und Typ 2 (DM1 und DM2) handelt es sich um autosomal-dominant vererbte multisystemische Repeat- Erkrankungen mit ähnlichem Symptomspektrum, basierend auf einer CTG-Repeatexpansion am 3′ Ende des DMPK-Gens auf Chromosom 19q13.3. bei myotoner Dystrophie Typ1 bzw. einer CCTG-Repeat Expansion im 1. Intron des ZNF 9 Gens auf Chromosom 3q21.3

Aktuelles

  • Eine Sicherheits- und Verträglichkeitsstudie mit Oligo-Antisensenukleotiden zeigte keinen positiven therapeutischen Effekt bei DM1. Es liegen nun Ergebnisse der MARINA-Studie – einer Phase II-Studie zu ASOS (AOC 1001) bei DM1 – vor, die bei guter Verträglichkeit eine tendenzielle Besserung der Myotonie, der Muskelkraft und Mobilität in einer 6-Monats-Periode zeigten. Die funktionelle Besserung folgte dem Knockdown von DMPK Veränderungen des Splicings. Wesentliche Nebenwirkungen waren Schmerzen im Zusammenhang mit der Applikation, prozedural (36%), Anämie (32%), COVID-19-Infektion (23%), Kopfschmerzen (23%) und Nausea (23%).
  • Eine Sicherheits- und Verträglichkeitsstudie zu dem Oligo-Antisense-Nukleotid Baliforsen zeigte keinen positiven therapeutischen Effekt bei DM1 [8].
  • Die Ergebnisse der Phase II MARINA-Studie zu dem Oligo-Antisense-Nukleotid AOC 100 sind bislang nicht publiziert.

Synonyme

  • Curschmann-Steinert-Erkrankung
  • myotone Dystrophie Typ 1, DM1
  • proximale myotone Myopathie, PROMM
  • myotone Dystrophie Typ 2, DM2

Keywords

  • Curschmann-Steinert-Erkrankung
  • myotone Dystrophie Typ 1, DM1
  • proximale myotone Myopathie, PROMM
  • myotone Dystrophie Typ 2, DM2

Definition

  • Als myotone Dystrophie wird eine autosomal-dominant vererbte multisystemische Erkrankung mit Myotonie, Muskelschwäche und -atrophie sowie multisystemischen Manifestationen (Katarakt, Diabetes, Herzbeteiligung, zentrale Beteiligung, cMRT-Veränderungen, Hyperhidrose und Myalgien [bei DM2]) bezeichnet.

Epidemiologie

  • Die myotone Dystrophie Typ 1 und Typ 2 wurden überwiegend in der kaukasischen Bevölkerung beschrieben, aber auch in Asien (vor allem Japan) und Afrika.

 

Häufigkeit
  • Für die myotonen Dystrophien besteht eine Prävalenz von ca. 8,5/100000.

 

Altersgipfel
  • Die DM1 kann bereits kongenital oder im Kindes-/Jugendalter manifest werden.
  • Bei der DM2 wurden erste Symptome ab der 2. Dekade beschrieben. Die DM2 manifestiert sich in der Regel jedoch in der 4.–7. Dekade, wobei Frauen einen etwas schwereren Phänotyp zu zeigen scheinen.
  • Bei DM1 hängt der Zeitpunkt der Krankheitsmanifestation von der Länge der CTG-Repeatexpansion ab. Bei Repeatexpansionen über 1000 CTG manifestiert sich die Erkrankung als schwere kongenitale Form bzw. im Kindes- oder Jugendalter. Auch bei geringerer Länge der Repeatexpansion korrelieren im Erwachsenenalter die Krankheitsausprägung und die Schwere des Verlaufs mit der Länge der Mutation, d.h. der Anzahl der CTG-Repeats. Bei DM2 ist dieser Zusammenhang nicht gegeben.

 

Geschlechtsverteilung
  • Männer und Frauen sind gleich häufig betroffen.

 

Prädisponierende Faktoren
  • Es konnten außer der jeweiligen Mutation keine prädisponierenden Faktoren identifiziert werden.
  • Gelegentlich kommt es bei bis dahin asymptomatischen Frauen mit einer DM2-Mutation zu einer Erstmanifestation während der Schwangerschaft.

Ätiologie und Pathogenese

  • Grundlage ist der jeweilige genetische Defekt.

  • Bei DM1 ist eine CTG-Repeatexpansion in einer nicht kodierenden Genregion am 3‘-Ende des DMPK-Gens auf Chromosom 19 q13.3 ursächlich, bei DM2 eine CCTG-Repeatexpansion auf Chromosom 3q 21.3 im 1. Intron des ZNF9-Gens.

Klassifikation und Risikostratifizierung

  • Eine Klassifikation und (eine gewisse) Risikostratifizierung ist anhand der Repeatlänge wie oben ausgeführt nur für die DM1 möglich, wobei sich aufgrund des somatischen Mosaiks keine Aussage über die Schwere bzw. das Risiko der einzelnen DM1-Manifestationen (Kap. Symptomatik ) treffen lässt und sich die Angaben bzgl. der Länge der Repeatexpansion auf die Untersuchung der DNA von peripheren Blutlymphozyten beziehen:
    • 70–300 CTG-Repeats milde adulte Form
    • 300–600 CTG-Repeats mittelschwere adulte Form
    • 600–900 CTG-Repeats mittelschwere bis schwere adulte Form, juvenile Form
    • >900–1000 CTG-Repeats kongenitale Form, schwere kindliche oder juvenile Form

Symptomatik

 

Myotone Dystrophie Typ 1
  • Myotonie
  • Muskelschwäche, distal beginnend, erst im Verlauf auf die proximalen Muskeln übergreifend
  • Facies myopathica mit Atrophie der Mm. masseter und temporales
  • verwaschene nasale Sprache
  • Schluckstörungen
  • Herzbeteiligung (Erregungsausbreitungs- und- rückbildungsstörungen, Kardiomyopathie, plötzlicher Herztod)
  • nächtliche alveloäre Hyoventilation
  • gehäuft Schlaf-Apnoe-Syndrom
  • Katarakt, nur in bestimmten Phasen als typisch polychromatisch („Christbaumschmuckkatarakt“) imponierend
  • ZNS-Beteiligung mit milden kognitiven Störungen, Depressionsneigung, und Auffälligkeiten in der cMRT (u.a. Atrophie der Weißen und Grauen Substanz, Marklagerläsionen, erweiterte Virchow-Robin-Räume)
  • Tagesmüdigkeit
  • Diabetes mellitus
  • Hypogonadismus und andere endokrine Störungen (Schilddrüsenfunktionsstörungen)
  • Stirnglatze
  • Hypogammaglobulinämie
  • Hypercholesterinämie
  • Myalgien (selten – im Gegensatz zu DM2)
  • Erhöhung der GGT
  • in der Schwangerschaft: Polyhydramnion, erhöhte Abortrate
  • kongenitale Form mit Hypotonie, Trink- und Saugschwäche und mentaler Retardierung

 

Myotone Dystrophie Typ 2
  • Myotonie (meist mild und auch im EMG nicht immer gut zu erfassen)
  • Muskelschwäche, proximal und meist im Bereich der Beine beginnend und initial vor allem die Hüftbeuger-/strecker betreffend, erst im Verlauf auf distale Muskeln übergreifend (Ausnahme frühe Beteiligung des M. flexor pollicis longus)
  • nur gering ausgeprägte Facies myopathica
  • Schluckstörungen im höheren Lebensalter
  • Herzbeteiligung (Erregungsausbreitungs- und- rückbildungsstörungen, Kardiomyopathie, plötzlicher Herztod)
  • Katarakt, nur in bestimmten Phasen als typisch polychromatisch („Christbaumschmuckkatarakt“) imponierend
  • ZNS-Beteiligung mit milden kognitiven Störungen, Depressionsneigung, und Auffälligkeiten in der cMRT (u.a. Atrophie der Weißen und Grauen Substanz, Marklagerläsionen)
  • Tagesmüdigkeit
  • Restless-Legs-Syndrom
  • Diabetes mellitus
  • Hypogonadismus und andere endokrine Störungen (Schilddrüsenfunktionsstörungen)
  • Hypogammaglobulinämie
  • Hypercholesterinämie
  • Hyperhidrose
  • Myalgien
  • Erhöhung der GGT
  • in der Schwangerschaft: keine erhöhte Komplikationsrate, kein Polyhydramnion
  • keine kongenitale Form
  • gehäuft kardiovaskuläre Ereignisse im höheren Lebensalter
  • Rhabdomyolyse möglich

Diagnostik

 

Diagnostisches Vorgehen
  • Das diagnostische Vorgehen umfasst im Wesentlichen die Anamneseerhebung einschließlich der Familienanamnese, eine klinische Untersuchung auf typische Symptome der Erkrankung und eine EMG-Untersuchung mit der Frage nach myotonen Entladungsserien. In Abhängigkeit von den Befunden wird eine molekulargenetische Untersuchung auf das Vorliegen einer DM1 bzw. DM2 in die Wege geleitet:
    • Anamnese
    • klinische Untersuchung
    • Bestimmung der CK und der Transaminasen. Die CK ist in der Regel um mehr als das 2-fache der oberen Norm erhöht, die GGT ist meist, aber nicht immer erhöht.
    • EMG-Untersuchung zum Nachweis myotoner Entladungsserien
    • molekulargenetische Diagnostik
    • Untersuchung auf multisystemische Manifestationen (Diabetes, Katarakt, Herzbeteiligung, Hypercholesterinämie)
    • evtl. Muskelbiopsie

 

Anamnese
  • Die Anamnese zielt auf myotone Symptome beim Greifen, Gehen (insbesondere in der Startphase), eine Myotonie der Zunge mit undeutlicher Sprache oder Schwierigkeiten beim Essen sowie Einschränkungen der Okulomotorik bei Patienten und Familienangehörigen (Familienanamnese).

  • Es sollte auch nach multisystemischen Manifestationen gefragt werden (z.B. Katarakt, kardiale Beteiligung [Kardiomyopathie, plötzlicher Herztod bei Angehörigen, Erregungsausbreitungs- und Rückbildungsstörungen], Diabetes, Hypogonadismus, zerebrale Beteiligung, Tagesmüdigkeit, Schmerzen, vermehrtes Schwitzen).

 

Körperliche Untersuchung
  • Die körperliche Untersuchung sollte eine Untersuchung aller Muskeln, einschließlich der von den Hirnnerven versorgten Muskeln, sowie die Untersuchung auf eine Myotonie umfassen:
    • Dazu gehören u.a. ein sog. Lidlag, eine Augenlidmyotonie mit verzögertem Absinken des Lides nach Aufwärtsblick, das sog. Warm-up-Phänomen bei repetitiven Bewegungen (z.B. wiederholter Faustschluss), eine Zungenmyotonie, eine Myotonie beim Gehen und Treppensteigen (Treppentest), eine Perkussionsmyotonie beim Beklopfen der Muskulatur (zu unterscheiden vom myotatischen/idiomuskulären Wulst) oder eine transiente Parese (MC Becker).
    • Auch sollten die MRC-Kraftgrade sämtlicher Muskeln bestimmt werden und eine Prüfung sämtlicher sensibler Qualitäten (Frage Polyneuropathie und neurogene Krampi) und eine Koordinationsprüfung erfolgen.
    • Bei extremer Myotonie und ausgeprägten distalen Paresen kann insbesondere bei der DM1 eine deutliche Einschränkung der Feinmotorik resultieren.
  • Die oben aufgeführten multisystemischen Manifestationen (z.B. Katarakt, kardiale Beteiligung, Diabetes, Hypogonadismus, zerebrale Beteiligung, Tagesmüdigkeit, Schmerzen, vermehrtes Schwitzen) sollten ggf. konsiliarisch vom jeweiligen Fachgebiet mitbehandelt werden.

 

Labor
  • CK-Bestimmung
  • Transaminasen
  • Blutzucker
  • Geschlechtshormone
  • Schilddrüsenhormone
  • Cholesterin
  • Immunglobuline
  • Molekulargenetik

 

Bildgebende Diagnostik
  • ggf. MRT der Muskulatur bei permanenten Paresen.

 

Sonografie

  • ggf. Sonografie der Muskulatur

 

Echokardiografie

  • empfehlenswert zum rechtzeitigen Erkennen einer Kardiomyopathie, z.B. jährlich

 

MRT

  • ggf. MRT der Muskulatur (zur Statuserhebung) und des Schädels (Frage nach parenchymaler Atrophie, Marklagerläsionen)

 

Instrumentelle Diagnostik

EKG

  • empfehlenswert zum rechtzeitigen Erkennen von Erregungsausbreitungs- und -rückbildungsstörungen sowie von Herzrhythmusstörungen, z.B. alle 3–6 Monate

  • ggf. Langzeit-EKG und weitere elektrophysiologische Untersuchungen mit der Frage nach einer Herzschrittmacherversorgung oder Versorgung mit einem Defibrillator

 

EMG

  • Bei den myotonen Dystrophien sollte, wie bei allen myotonen Muskelerkrankungen, ein EMG zum Nachweis typischer myotoner Entladungsserien durchgeführt werden.

  • Bei kongenital betroffenen Säuglingen oder Kleinkindern kann die Diagnosesicherung jedoch auch primär über die Molekulargenetik erfolgen.

 

Ösophago-Gastro-Duodenoskopie (ÖGD)

  • fakultativ bei gastrointestinalen Beschwerden bei DM1 indiziert (Frage nach ausgeprägter Myotonie der glatten Muskulatur)

 

ERCP

  • fakultativ bei Cholezystitis/Choledocholithiasis bei DM1, da diese mit einer erhöhten Inzidenz von Gallensteinen einhergeht

 

24-Stunden-Blutdruckmessung

  • fakultativ, in Abhängigkeit vom Ausmaß einer koinzidenten arteriellen Hypertonie

 

Histologie, Zytologie und klinische Pathologie

Histologische Diagnostik des Muskels

  • Eine Muskelbiopsie ist aufgrund der molekulargenetischen Möglichkeiten kaum mehr indiziert.

  • Sie kann bei diagnostischer Unsicherheit aufgrund eines atypischen Befallsmusters oder bei untypischer Belastungsintoleranz erfolgen, z.B. mit der Frage nach entzündlichen oder mitochondrialen Veränderungen.

  • Die Biopsie wird in der Regel aus einem proximalen, klinisch und MR-tomographisch mittelgradig betroffenen Muskel in Lokalanästhesie entnommen.

 

Histologische Leberdiagnostik

  • Sie wird insbesondere bei oligosymptomatischen Patienten vor der Diagnose ihrer DM aufgrund unklarer GGT-Erhöhungen häufig durchgeführt, ist aber bei bekannter Diagnose selten sinnvoll.

  • Histologisch finden sich meist unspezifische Befunde wie eine leichte Steatosis hepatis.

 

Molekulargenetische Diagnostik

  • molekulargenetische Diagnostik zum Nachweis der CTG- (DM1) bzw. CCTG-Repeatexpansion (DM2) zur Diagnosesicherung

Differenzialdiagnosen

Mögliche Differenzialdiagnosen myotoner Dystrophien sind in Tab. 125.1 aufgeführt.

Tab. 125.1 Differenzialdiagnosen der myotonen Dystrophien.

Differenzialdiagnose

Bemerkungen

Chloridkanalmyotonie

Myotonie im Vordergrund, Warm-up-Phänomen, transiente Schwäche bei autosomal rezessivem Erbgang, keine Katarakte, CK nur leicht erhöht, GGT normal, Diagnosesicherung durch EMG und Molekulargenetik

Natriumkanalmyotonie

paradoxe Myotonie, keine Paresen, CK nur leicht erhöht, GGT normal, Diagnosesicherung durch EMG und Molekulargenetik

Mitochondriopathie

multisystemisch, kardiale Beteiligung, Retinopathie, Okulomotorikstörung, selten Katarakt, keine Myotonie, gelegentlich Myalgien, Neuropathie, Enzephalopathie, Diagnosesicherung durch Biopsie und Genetik

Rippling Musscle Disease

Caveolinopathie, DD autoimmun, deutliche CK-Erhöhung, Rippling-Phänomen, proximal betonte Muskelschwäche, Diagnosesicherung durch EMG und Genetik

Morbus Pompe

proximal betonte Muskelschwäche, gelegentlich Myalgien, keine Myotonie, pseudomyotone Serien im EMG, Diagnosesicherung durch Trockenbluttest

Einschlusskörpermyositis

Schwäche der Fingerbeuger- und -strecker und des M. quadriceps, Schluckstörungen, keine Myotonie, im EMG neurogen-myogenes Mischbild, Diagnosesicherung durch Muskelbiopsie

CK: Kreatinkinase, EMG: Elektromyografie, GGT: γ-Glutamyltransferase

Therapie

 

Therapeutisches Vorgehen

Symptomatische Therapie

  • Die symptomatische Therapie der myotonen Dystrophien besteht aktuell in verschiedenen symptombezogenen Maßnahmen.
    • Muskelschwäche: Physiotherapie soll regelmäßig ausgeführt werden, um einer Zunahme der Muskelschwäche entgegenzuwirken und Kontrakturen zu vermeiden. Kreatinmonohydrat hat bei DM1 und DM2 nicht zu einer signifikanten Verbesserung der Muskelkraft geführt. Bei schweren Paresen können orthetische Hilfsmittel hilfreich sein.
    • Myotonie: Die derzeit verfügbaren Antimyotonika, wie Flecainid und Propafenon, sind, wie auch das früher eingesetzte Mexiletin, wegen möglicher Blockierungen des kardialen Reizleitungssystems nur unter Gewährleistung von regelmäßigen EKG- und Spiegelkontrollen oder bei Versorgung mit einem Herzschrittmacher eingeschränkt indiziert. Mexiletin ist das effektivste Medikament zur Behandlung der Myotonie, ist derzeit aber nicht verfügbar.
    • Endokrine Störungen: Eine diabetische Stoffwechsellage oder eine Schilddrüsenfunktionsstörung sollten wie üblich behandelt werden.
    • Herzbeteiligung: Bei Erregungsausbreitungs- und -überleitungsleitungsstörungen ist die Versorgung mit einem Herzschrittmacher zu prüfen. Vieles spricht für eine frühzeitige bzw. prophylaktische Herzschrittmacherimplantation bzw. Versorgung mit einem Defibrillator.
    • Tagesmüdigkeit: Bei einer Hypersomnie, die sich vor allen Dingen in fortgeschritteneren Stadien der DM1 und DM2 entwickeln kann, wurde die Wirksamkeit von Modafinil in einer Metaanalyse nicht bestätigt. Modafinil ist in Deutschland nur noch für die Behandlung der Narkolepsie bei Erwachsenen zugelassen und daher bei DM nur Off-Label einsetzbar.
    • Schmerzen (Myalgien):
      • Sie treten vor allem bei DM2 auf. Die genaue Ursache der vielgestaltigen Schmerzen ist unklar.
      • Sie treten teils schubartig und in Ruhe nach Belastungen auf.
      • Sie können einen dumpf-brennenden bis stechenden-neuralgiformem Charakter haben und eine wechselnde Lokalisation zeigen.
      • Hier empfiehlt sich neben der Evaluation des Schmerzcharakters auch die Dokumentation der Schmerztopologie und eine stufenweise zu erprobende Schmerztherapie mit nicht steroidalen Antiphlogistika wie Diclofenac, Ibuprofen, oder Paracetamol, ASS, Antidepressiva (Trizyklika), Antiepileptika zur Membranstabilisierung, und nur in Ausnahmefällen Metamizol, Tilidin oder andere Morphinderivate.
    • Hypercholesterinämie: Insbesondere die DM2 scheint mit einer vermehrten Cholesterinsynthese assoziiert zu sein. Zur Behandlung sollten diätetische Maßnahmen und evtl. Bezafibrat eingesetzt werden, dagegen auf HMG-CoA-Reduktasehemmer (Statine) verzichtet werden.
    • Kognitive Defizite: Hier sollten eine neuropsychologische Untersuchung und eine MRT-Diagnostik mit cMRT erfolgen, ggf. auch eine auf das individuelle Defizit zentrierte Behandlung.
    • Narkose: Bei Narkosen sollten die bei Muskelerkrankungen üblichen Kautelen zur Vermeidung einer malignen Hyperthermie berücksichtigt werden. Sukzinylcholin und Suxamethonium sind kontraindiziert. Triggersubstanzen für eine maligne Hyperthermie (z.B. Halothan) sind kontraindiziert. Eine Propofol-Narkose stellt in der Regel kein Problem dar.
    • Nächtliche Hypoventilation/Schlaf-Apnoe-Syndrom: Vor allem die DM1, seltener auch die DM2, gehen überdurchschnittlich häufig hiermit einher. Je nach dem Ergebnis einer somnologischen Diagnostik im Schlaflabor empfiehlt sich u.U. eine nächtliche Maskenbeatmung (CPAP-Beatmung; CPAP: „continuous positive airway pressure“). Für die Behandlung der nächtlichen alveolären Hypoventilation ist in Abhängigkeit von der jeweiligen Situation eine CPAP- oder BiPAP-Beatmung (BiPAP: „bilevel positive airway pressure“) geeignet.
    • Schluckstörungen: In fortgeschrittenen Stadien können bei DM1 und DM2 Schluckstörungen auftreten. Diese sind logopädisch-schlucktherapeutisch zu behandeln, bei sehr schweren Formen kann die Anlage einer PEG-Sonde in Erwägung gezogen werden.

 

Kausale Therapie

  • Die in Entwicklung befindlichen kausalen Therapieansätze zielen in erster Linie auf eine Ausschaltung der Wirkung der pathogenen Repeatexpansionen, die Ausschaltung der RNA-Transkripte und eine Verhinderung der Bildung der Haarnadelformationen (z.B. durch bestimmte Peptide) ab (Tab. 125.2).
Tab. 125.2 Therapie der Myotonie bei myotonen Dystrophien.

Myotoniesubtyp

Mutation

Pharmakotherapie

Indikation für das jeweilige Verfahren

myotone Dystrophie Typ 1 (DM1)

CTG-Repeatexpansion DMPK1-Gen, Chromosom 19q

selten Flecainid, Propafenon oder Carbamazepin unter Kontrolle der kardialen Situation

sozial/beruflich, erwünschte Symptombesserung

myotone Dystrophie Typ 2 (DM 2)

CCTG-Repeatexpansion ZNF9-Gen, Chromosom 3q

selten Flecainid, Propafenon oder Carbamazepin unter Kontrolle der kardialen Situation

sozial/beruflich erwünschte Symptombesserung

kongenital manifeste DM1

CTG-Repeatexpansion DMPK1-Gen, Chromosom 19q

keine

Allgemeine Maßnahmen
  • Ein Monitoring sollte neben regelmäßigen Kontrollen der Blutzucker- und Cholesterinwerte jährliche augenärztliche und viertel- bzw. halbjährliche kardiologische Kontrollen (je nach Schwere der kardiologischen Problematik) umfassen. Aufgrund des chronischen Verlaufes mit langsam fortschreitender Muskelschwäche sollte in jährlichen Abständen eine klinische Re-Evaluation durch eine erfahrene Neurologin/einen erfahrenen Neurologen erfolgen und die Hilfsmittelversorgung ggf. angepasst werden.

  • Bei Hinweisen auf eine nächtliche alveoläre Hypoventilation bzw. ein Schlaf-Apnoe-Syndrom sollte eine Diagnostik in einem Schlaflabor durchgeführt werden und ggf. eine intermittierende Heimbeatmung in die Wege geleitet werden. Bei schwereren Verläufen können insbesondere pulmonale Komplikationen im späteren Lebensalter zu kritischen Situationen führen. Schwerwiegende kardiale Rhythmusstörungen können sich auch unabhängig von der Ausprägung der Muskelschwäche ohne besondere Prodromi entwickeln und sind daher immer im Auge zu behalten. Die Indikation für eine prophylaktische Schrittmacherimplantation sollte daher großzügig gestellt werden. Insgesamt ist die Lebenserwartung insbesondere durch pulmonale und kardiale Komplikationen limitiert.

 

Pharmakotherapie
  • 1. Wahl: Flecainid 2-mal 50–100mg/d oder Propafenon 2-mal 150–300mg/d, kardiologische Voruntersuchung und Kontrollen. Cave: kardiale Reizleitungsstörungen!

  • 2. Wahl: Carbamazepin retard bis zu 600mg/d oder Phenytoin (300mg/d). Cave: Blutbildveränderungen und Hyponatriämie bei Carbamazepin und kardiale Reizleitungsstörungen bei Phenytoin

 

Operative Therapie
  • Kataraktoperation bei grauem Star, je nach klinischem Stadium.

Verlauf und Prognose

  • In der Regel besteht eine normale Lebenserwartung bei adäquater symptomatischer Therapie.
  • Der molekulargenetische Mutationsnachweis sichert die Diagnose bei DM1 und DM2, und erlaubt in gewissem Rahmen eine prognostische Abschätzung bei DM1, da hier die Länge der Repeatexpansion mit der Schwere des klinischen Verlaufes korreliert (dagegen nicht bei DM2).
  • Bei DM1 sollte eine ausführliche Beratung in Bezug auf die mögliche Antizipation der Erkrankung und das Risiko, ein Kind mit einer schweren kongenitalen Form zu bekommen, durchgeführt werden.

    Prävention

    • Die Indikation zur prophylaktischen Implantation eines Herzschrittmachers oder Defibrillators ist regelmäßig zu prüfen.

      Literatur

       

      Literatur zur weiteren Vertiefung
      • [1] Annane D, Moore DH, Barnes PR et al. Psychostimulants for hypersomnia excessive daytime sleepiness) in myotonic dystrophy. Cochrane Database Syst Rev 2006; 3: CD003218
        Suche in: PubMed Google Scholar
      • [2] Groh WJ, Groh MR, Saha C et al. Electrocardiographic abnormalities and sudden death in myotonic dystrophy type 1. N Engl J Med 2008; 358: 2688–2693
        Suche in: PubMed Google Scholar
      • [3] Harper PS, van Engelen B, Eymard B et al., Hrsg. Myotonic dystrophy: present management, future therapy. Oxford: Oxford University Press; 2004
        Suche in: PubMed Google Scholar
      • [4] Lazarus A, Varin J, Babuty D et al. Long-term follow-up of arrhythmias in patients with myotonic dystrophy treated by pacing. J Am Coll Cardiol 2002; 40: 1645–1652
        Suche in: PubMed Google Scholar
      • [5] Logigian EL, Martens WB, Moxley RT et al. Mexiletine is an effective antimyotonia treatment in myotonic dystrophy type 1. Neurology 2010; 23: 466–476
        Suche in: PubMed Google Scholar
      • [6] Schneider-Gold C, Lehmann-Horn F, Ellrichmann G et al. Myotone Dystrophien, nicht-dystrophe Myotonien und periodische Lähmungen. AWMF-Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie; 2017
        Suche in: PubMed Google Scholar
      • [7] Schneider-Gold C, Kress W, Grimm T et al. Myotone Dystrophien. Akt Neurologie 2010; 7: 348–359
        Suche in: PubMed Google Scholar
      • [8] Thornton CA, Moxley 3rd RT, Eichinger K et al. Antisense oligonucleotide targeting DMPK in patients with myotonic dystrophy type 1: a multicentre, randomised, dose-escalation, placebo-controlled, phase 1/2a trial. Lancet Neurol 2023 Mar;22 (3): 218–228. doi: 10.1016/S1474-4422(23)00001-7
        Suche in: PubMed Google Scholar

       

      eRef-Link: https://eref.thieme.de/referenz/referenz_0331